16
Nach ihrer Rückkehr ins Büro legte Sofi acht quadratische Großaufnahmen von der Toten auf den Tisch. Kjell fasste als Erster die außerordentliche Schönheit der toten Frau in Worte. Sofi ging zur Kaffeemaschine und goss sich eine Tasse ein.
„Von erlesener Schönheit“, präzisierte Henning und schaukelte auf seinem Stuhl. „Gab es etwa keinen Kaffee im Retziusvägen, Sofi?“
„Von auserwählter Schönheit, möchte man fast sagen“, sagte Kjell. Mehr fiel ihm beim Betrachten der Bilder offenkundig nicht ein.
Sofi reichte es. „Von extrudierter Schönheit, solltet ihr lieber sagen. Das sind die Auszüge aus der Bildbearbeitung. Habt ihr wirklich geglaubt, dass die Leiche so aussieht?“
Die Männer seufzten aus Enttäuschung im Chor.
Barbro seufzte wegen der Enttäuschung der Männer.
„Aber vor dem Unfall war sie wirklich von …“
„Halt die Klappe, Henning!“ Barbro wies darauf hin, welches Problem die Bilder bei einer Veröffentlichung bereiten würden. Je schöner das Gesicht war, desto mehr Menschen glaubten dann, die Person zu kennen oder gesehen zu haben. Die Aufnahmen waren vollständig vom Computer erschaffen, aus den echten Bildern und den Daten aus Kernspintomografen.
„Die echten Bilder können wir dafür nicht verwenden“, sagte Sofi und musste die Aufnahmen nur ein kleines Stück aus dem blassroten Umschlag ziehen, um alle zu überzeugen. Sie schlug vor, einen Zeichner die unechten Bilder abzeichnen zu lassen.
Dann berichtete Sie von dem Problem der Pathologen, die genetische Herkunft der Toten zu bestimmen. Kjell griff darauf zum Telefon und rief Hans Ekeblad an.
„Es scheint kein technischer Fehler zu sein“, sagte der Chef der Rechtsmedizin. „Beim SKL ist genau dasselbe passiert. Sie haben eben angerufen.“
„Habt ihr keine anderen Möglichkeiten auf der Pfanne?“, fragte Kjell.
„Darum geht es nicht, verstehst du. Das ist kein Fehler, der öfter mal vorkommt. Es gibt ja durchaus ein Ergebnis. Es beunruhigt uns nur so, weil es sehr ungewöhnlich ist. Wir kennen vierunddreißig genetische Populationen in Europa, und die sind inzwischen bis in jede Untergruppe katalogisiert. Wir hatten zuerst den Verdacht, sie könnte aus der westlichen Türkei stammen. Dort passt sie allerdings auch nicht hinein.“
Kjell blickte in die Runde, um die Reaktionen der anderen abzulesen. Doch sie saßen nur da und lauschten auf Hans’ verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher.
„Ausschließen kannst du also nicht, dass ihr beim Katalogisieren ein ägäisches Bauerndorf übersehen habt. Verstehe ich das richtig?“
„Es verhält sich viel gröber. Sie ist keine unbekannte Variante sondern ein unbekannter Haupttypus. Sie muss aus einem riesigen Genpool stammen, der uns völlig unbekannt ist. Und mit uns meine ich die Genforschung im allgemeinen. Sie ist als Einzelperson die fünfunddreißigste europäische Population, wenn du so willst. In allerlei Zügen weicht sie von anderen ab. Und diese Abweichung lässt sich nicht mit ein, zwei Generationen erklären.“
„Vielleicht sieht sie nur aus wie eine Europäerin, hast du daran schon mal gedacht? Südamerika vielleicht?“
Hans seufzte aus tiefstem Inneren. „Ihre Abweichungen gehen viel weiter, als es bei Südamerikanern mit europäischen Vorfahren der Fall sein kann. Alle nichteuropäischen Typen fallen aus.“
„Also ist sie aus Europa? Kannst du wenigstens das sicher sagen?“
„Ich kann dir sicher sagen, dass sie Europäerin, jedoch mit keiner der genetischen Populationen von Europa enger verwandt ist.“
„Sie könnte eine Mutantin sein“, vermutete Henning, nachdem Kjell aufgelegt hatte. Er legte dabei seinen Arm um Barbro, um zu demonstrieren, wie er zu dieser Hypothese hatte kommen können.
Während die anderen scherzten, bestellte Kjell den Kriminaltechniker nach oben. Wie beauftragt brachte Per Arrelöv den Abdruckscanner mit.
„Nun sind alle versammelt, die von der Existenz des Kuverts wissen“, verkündete Kjell.
Seine weiblichen Kollegen blickten ihn fragend an, nur Henning strich sich ums Kinn, aus derselben Vorahnung heraus, mit der er einen Gegentreffer für Hammarby meist schon kommen sah, wenn der Ball noch im Mittelfeld unterwegs war.
Kjell schlug eine Abstimmung vor.
„Habt ihr einen Ankläger eingeschaltet?“, fragte Sofi.
„Das können wir nicht“, erklärte Barbro. „Die Ankläger reagieren bei allem, was Diplomatie betrifft, mit übertriebener Vorsicht. Da will sich keiner einem Risiko aussetzen. Deshalb können wir sicher davon ausgehen, dass ein Ankläger den Fall sofort einfrieren wird.“
Sofi ließ nicht locker. Sie ließ nie locker. „Aber sie haben ja einen guten Grund dazu.“
„Den haben sie nicht. Die Unantastbarkeit unterliegt sehr strengen Regeln. In Wahrheit gibt es jedes Jahr viele Fälle, wo Zoll oder Polizei eine Sendung öffnen.“
Sofi lachte auf. „Das ist etwas ganz anderes. Das tun sie nur, wenn beispielsweise Kokain herausrieselt. In solchen Fällen ist das Kuvert selbst das Verbrechen. Es handelt sich dann um einen erkennbaren Missbrauch der Immunität. Unser Kuvert ist jedoch nur eine sichergestellte Spur, und wir haben keinen Hinweis darauf, dass etwas darin steckt, was da nicht hineingehört, und auch nicht, dass das Kuvert der Grund für den Mord war.“
„Genau das haben wir! Mehrere Zeugenaussagen berichten von einem Mann, der die Frau kurz nach dem Unfall durchsucht hat.“
„Lasst uns lieber die Tatsachen zusammenfassen“, schlug Kjell vor. „Ob wir es überhaupt mit einem diplomatischen Fall zu tun haben, ist doch noch völlig unklar. Die Frau ist nicht als Diplomatin beim Außenministerium akkreditiert. Das müsste sie sein, wenn sie Diplomatenpost bei sich führt …“
„Aber sie kann das Kuvert gestohlen haben“, wandte Sofi ein. „Das ändert nichts daran, dass es unantastbar ist.“
„… Zum zweiten teilen uns die UN-Büros in New York und in Wien dies mit: Es kann sich zwar um ein echtes Kuvert handeln, doch in diesem Fall müsste es eine Länderkennzeichnung darauf geben. Es gibt aber nicht mal eine Plombe oder ein Siegel. Das hier kann jeder basteln.“
Sofi nahm Kjell das Kuvert aus der Hand und betrachtete es „Und wenn nicht? Wenn es doch echt ist?“
Henning hob die rechte Hand. „Ich bin dafür.“
Kjell sah Barbro an. Sie nickte.
Kjell sah Sofi an.
„Ich enthalte mich.“
Kjells Blick streifte Theresa. „Du enthältst dich auch, Theresa.“
„Aber ich bin dafür!“
„Das ahnte ich schon. Du enthältst dich trotzdem. Per?“
„Warum zieht ihr mich da mit rein?“
Kjell legte seine Hand auf Pers Schulter.
„Du öffnest schließlich das Ding“, umschrieb Henning Kjells auffordernde Geste mit Worten und schüttelte dabei verständnislos den Kopf.
Kjell nickte Per aufmunternd zu. „Das ist dein Job, Per. Wenn du es machst, merkt es niemand. Du öffnest es ganz vorsichtig, ziehst das Papier ein Stück heraus und machst wieder zu. Wenn ein Hinweis auf den Ursprung darin steckt, geben wir das Kuvert sofort ab.“
„Warum machen wir es nicht einfach auf und verbrennen es danach?“
„Weil es vielleicht der entscheidende Beweis sein könnte.“
Theresa gab zu bedenken, dass der Kriminaldienst und vielleicht auch die Sanitäter von dem Kuvert wussten.
Per fluchte, griff nach dem Kuvert und öffnete es zum Schrecken aller in nur drei Sekunden. Er zog mit der Pinzette ein dünnes Blatt hervor, das in seinen Maßen ein wenig kleiner war als das Kuvert. „Vier Zeilen chiffrierter Text, meine Damen und Herren, kein Wappen, kein Name, kein Land. Darf ich wieder zumachen?“
Sofi sprang auf und lief ins Büro hinüber. Sie kehrte mit ihrem Fotoapparat zurück, beugte sich über Pers Schulter und machte drei Aufnahmen. Dann verschwand sie erneut. Per beleuchtete das Dokument mit seinem Scanner. Das Ergebnis ließ einige Sekunden auf sich warten.
„Es sind die gleichen Abdrücke wie auf dem Kuvert. Ich schiebe es wieder hinein.“
Mit zwei Pinzetten arbeitete er am Verschluss, bis er zufrieden lächelte. Als wäre nichts geschehen. Die anderen saßen um den Tisch wie bei einer jährlichen Aufsichtsratsitzung.
Als Sofi nach vier Minuten noch nicht zurückgekehrt war, ging Kjell zu ihr hinüber und fand sie vor ihrem Computer. Dort hatte sie die Fotos geöffnet und tippte die vier Zeilen ab. Sie bestanden nur aus Großbuchstaben.
„Sieht nach einer Schreibmaschine aus. Die Buchstaben tanzen ein wenig auf der Grundlinie.“
Sofi schüttelte den Kopf. „Das kommt aus einem Fernschreiber. Im Außenministerium und bei der Säpo benutzt man sie auch noch, mit sicheren Leitungen.“
„Dann ist es also codiert?“
Sofi überprüfte zweimal, ob sie die Zeilen richtig kopiert hatte. „Sieht so aus.“
Er fragte, ob sie es entziffern könne. Schließlich war sie neben seiner Freundin Ida der einzige ihm bekannte Mensch, der Achtung vor Primzahlen empfand.
„Auf die Schnelle wohl nicht, auch wenn es nicht so komplex aussieht.“
Der Drucker begann zu summen und spuckte vier Kopien aus.
„Könntest du nicht den Typen von der Konterspionage fragen, mit dem du immer in der Kantine isst?“
Sofi lächelte. „Immer, ja?“
Zurück bei den anderen verteilte Sofi schweigend die Kopien. Sie setzte sich selbst mit einem Ausdruck auf ihren Platz und betrachtete ihn eine Minute lang.
„Heute verständigt man sich meist elektronisch. Man verschickt nur noch Dokumente, die aus protokollarischen Gründen aus Papier sein müssen. Verträge etwa. Die kommen dann in ein diplomatisches Kuvert. Eigentlich wird das Kuvert auch verplombt, so dass der Empfänger weiß, dass vor ihm niemand die Nachricht gelesen hat.“
„Was wir hier haben, ist aber kein Dokument“, fand Henning und schnippte gegen das Papier. „Das sieht eher aus wie eine Kurznachricht. ‚Bin kurz mit dem Hund raus‘, oder so.“
Sofi kaute auf ihrer Unterlippe. „Elektronische Post wird immer chiffriert. Die Sache hat nur einen Haken: Wie lässt man dem Empfänger den Schlüssel zukommen? Wenn das Außenministerium mit einer Botschaft irgendwo in der Welt chiffriert kommunizieren will, dann benötigt die Botschaft einen Schlüssel zum Entziffern. Der muss so transportiert werden, dass ihn niemand abfangen kann. Und dafür gibt es bisher nur einen einzigen sicheren Weg.“
„Mit einem Kurier“, riet Kjell.
Sofi nickte. „Wenn das hier ein Text ist, dann kann die Chiffre nicht so komplex sein. Es sind ja nur Großbuchstaben. So etwas wie das Caesarquadrat etwa. Da werden die Zeichen nur vertauscht.“
„Und wenn ein mongolischer Text dahinter steckt?“, fragte Kjell. „Die Wahrscheinlichkeit ist ja sehr hoch, dass der Text nicht schwedisch ist.“
„Ich glaube nicht, dass es wirklich eine Nachricht mit Inhalt ist. Dann wäre die Chiffre viel zu einfach.“
„Also ein Chiffrierschlüssel?“, fragte Kjell.
„Wir könnten tatsächlich die Sicherheitsabteilung fragen. Bei der Konterspionage können sie so etwas im Handumdrehen herausfinden.“
Henning räusperte sich. „Die Säpo einzuschalten, finde ich zu riskant.“
„Du musst umdenken“, sagte Barbro. „Seit Mitternacht haben wir dieselbe Sicherheitsstufe. Das legendäre sonderbare Verhalten der Säpo liegt ja darin begründet, dass man dort Geheimnisverrat fürchtet. Deshalb hat Kullgren doch überhaupt befürwortet, das Polizeigesetz zu ändern. Er wollte jemanden bei der Reichskrim, der seine Sicherheitsstufe hat. Und das sind wir.“
Kjell lächelte vor sich hin. „Glaubst du wirklich, die halten uns jetzt für ihresgleichen?“
„Wir probieren es einfach“, meinte Barbro.